Florian Holsboer

FAQ

24 häufig gestellte Fragen zur Depression

1. Was ist eine Depression?

Die Krankheit Depression ist von der normalen Gemütsreaktion auf ein emotional negativ belastendes Ereignis abzugrenzen. Die Grundlagen des heutigen Verständnisses der Depression hat in erheblichem Maße der Psychiater und Gründer des jetzigen Max-Planck Instituts für Psychiatrie, Emil Kraepelin, Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen.

Die Depression kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Man versuchte sie durch bestimmte diagnostische Kriterien zu definieren, allerdings sind die Übergänge zwischen den verschiedenen Depressionsformen fließend und das starre Festhalten an Diagnoseschemata hat sich als wenig zielführend für Therapie und Forschung erwiesen.

Eine Depression kann schleichend beginnen oder aber auch ganz plötzlich auftreten, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die typischen Symptome sind traurige Verstimmung, Schlafstörungen, schlechte Konzentration, Müdigkeit, Reizbarkeit, kognitive Leistungsdefizite, Verlangsamung des Bewegungsablaufs, Appetitmangel und Gewichtsverlust sowie Hoffnungslosigkeit und die Unfähigkeit, sich an Ereignissen in der unmittelbaren Umgebung emotional zu beteiligen. Oft bestehen Tagesschwankungen – typischerweise ist die Depression am Vormittag stärker ausgeprägt als am Nachmittag. Das Interesse an normalerweise positiv getönten Aktivitäten ist abgestorben. Zudem ist die Sexualität stark beeinträchtigt: Fast immer sinkt das sexuelle Verlangen und es kann bis zur gänzlichen Unfähigkeit zur sexuellen Betätigung kommen. In schweren Fällen ist die Hoffnungslosigkeit so stark ausgeprägt, dass der Lebenswille erlischt und Suizidgedanken auftreten, die zur Planung und Durchführung von Suizidversuchen führen können.

Bei einer relativ kleinen Zahl von Patienten mit Depression entstehen unrealistische Gedanken, wie zum Beispiel jene, dass die Depression eine gerechte Strafe für Verfehlungen im früheren Leben sei. Diese sogenannten Wahnideen sind mitunter religiös gefärbt und werden oft als Strafe Gottes erlebt. Es kann bei diesen Wahnideen auch zu anderen realitätsfernen Befürchtungen kommen. Der Erkrankte meint sodann, schwer verschuldet zu sein, er könne sich den Krankenhausaufenthalt gar nicht leisten und würde die Familie ins Verderben ziehen. In anderen Fällen stehen unrealistische Befürchtungen über die körperliche Verfassung im Vordergrund, hierbei spielen Annahmen eine große Rolle, wonach sich im Körper eine schwere, bislang noch unerkannte Erkrankung ausbreiten würde, die noch nicht gefunden sei. Diese Patienten konsultieren oft viele Ärzte und unterziehen sich immer wieder relativ unangenehmen Diagnoseverfahren, z.B. Magenspiegelungen, weil sie nicht glauben können, dass ihre depressionsbedingten Befürchtungen keine medizinische Grundlage haben.

Eine seltene, überwiegend bei Frauen auftretende Form, sind die sehr kurz andauernden akuten depressiven Verstimmungen, die oft nur einen Tag oder ein bis zwei Wochen dauern und dann wieder von selbst abklingen. Ob dies durch Zyklusbedingte Hormonschwankungen verursacht ist, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Eine ebenfalls selten auftretende Form ist die chronische Depression, bei der trotz aller therapeutischen Bemühungen nur eine geringgradige Besserung erreicht werden kann. Diese therapieresistente Depressionsform tritt bei 10 – 15 % der Patienten auf.

Eine weitere Sonderform der Depression, die im Leben etwa bei 1 % der Bevölkerung – im Vergleich zu 10 – 15 % für die typische schwere Depression – auftritt, ist die manisch-depressive Krankheit. Hierbei können neben depressiven Episoden auch sogenannte manische Episoden beobachtet werden. In gewisser Weise sind diese manischen Episoden der Gegenpol zur depressiven Episode. Hierbei ist die Stimmung anhaltend gehoben, sorglos heiter bis gereizt erregt. Der Patient ist in seiner Aktivität so sehr gesteigert, dass sich das sowohl im sozialen als auch im beruflichen Bereich niederschlägt. Patienten mit einer gering ausgeprägten manischen Episode sind oft hocheffizient, leisten mehr als sonst, haben ein geringes Schlafbedürfnis, jedoch ohne das Gefühl zu haben, sich dabei zu verausgaben.

Bei starker ausgeprägter Manie allerdings kann die berufliche Überaktivität oft zu einem wirtschaftlichen Problem werden, denn oft fehlt es an Selbstkritik, es kommt zur Selbstüberschätzung und nicht selten fühlt sich etwa ein Abteilungsleiter mit einer Manie schnell zum Konzernchef berufen, will das Unternehmen umstrukturieren oder gibt sehr viel Geld, auch persönliche Mittel, für nicht angemessene Anschaffungen (Villa, Luxuslimousine etc.) aus. Auch im sozialen Bereich kommt es vermehrt zu Problemen, vor allem wegen der Distanzlosigkeit und Kritikschwäche, zum Beispiel gegenüber Alkohol sowie der Neigung zu sexuellen Ausschweifungen. In einer später nachfolgenden depressiven Episode werden die Handlungsweisen während der Manie oft schuldhaft und belastend empfunden.

Depressionen können zwar in jedem Lebensalter erstmals auftreten, jedoch kommt das Vollbild einer Depression im mittleren Lebensalter am häufigsten vor. Verlaufsuntersuchungen haben gezeigt, dass die Vorboten für Depressionen bereits im frühen Lebensalter zu erkennen sind, allerdings nicht als Depression, sondern als Angsterkrankung. Wir wissen heute, dass junge Menschen mit Angsterkrankungen, zum Beispiel Panikattacken, ein erhöhtes Risiko haben, später an einer Depression zu erkranken. Erst im hohen Alter ist das Risiko, erstmals an einer Depression zu erkranken, vermindert. Allerdings wissen wir nicht, wie häufig sich Depressionen im Alter nicht in Wirklichkeit hinter einigen Formen der im Alter gehäuft vorkommenden Demenzen verbergen.

2. Depression, eine häufige Krankheit

Depressionen sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass zumindest 10 – 15 % der Bevölkerung im Laufe des Lebens an einer Depression erkranken. Hierbei sind nicht die leichten depressiven Verstimmungen gemeint, die man als normale Gemütsreaktion verstehen könnte, sondern diejenigen Depressionen, die so stark beeinträchtigen, dass man sie behandeln muss – oder besser gesagt: müsste, denn nur zu oft werden Depressionen nicht erkannt.

Wie gravierend sich das häufige Vorkommen von Depressionen auf unser wirtschaftliches und soziales Leben auswirkt, hat eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gezeigt, der zufolge Depressionen neben Herzkreislauferkrankungen die weltweit führende Ursache für die durch Krankheit beeinträchtigten Lebensjahre sind. Diese Berechnung ist auf die gesamte Lebensspanne bezogen. Engt man die Altersspanne auf 15 bis 44 Jahre ein, wird der hohe Stellenwert dieser psychiatrischen Erkrankungen und insbesondere der Depression deutlich. Sie machen etwa ein Viertel aller durch Krankheit beeinträchtigten Lebensjahre dieser Altersgruppe aus.

Auch die Krankenversicherungen sind mit dieser Problematik konfrontiert: Antidepressiva gehören zu den meistverschriebenen Medikamenten überhaupt und nehmen einen Spitzenplatz bei den Arzneimittelkosten der gesamten Medizin ein. Noch viel gravierender fällt die hohe Zahl der im Krankenhaus verbrachten Zeit und die Kosten für Arztbesuche und Psychotherapie ins Gewicht. Der schwerwiegendste Faktor aber sind die enormen Ausfallzeiten durch krankheitsbedingte Abwesenheit und die Frühberentung. Die Kosten hierfür sind eine enorme Belastung für Arbeitgeber, Krankenkassen und das Rentensystem. Auch die verminderte Leistungsfähigkeit von Menschen, die unter Depression leiden, aber dennoch am Arbeitsplatz sind („Präsentismus“), ist wirtschaftlich belastend.

Tatsächlich kann die Depression jeden treffen. Sie ist nicht eine Erkrankung der Armen, Unterprivilegierten, derer, die am Rande der Gesellschaft leben und in wirtschaftlicher Notsituation sind. Das Bekenntnis des deutschen Fußballspielers Sebastian Deisler, der scheinbar auf dem Höhepunkt seiner Karriere an einer schweren Depression erkrankte und sich öffentlich dazu bekannte, ist nur ein Beispiel dafür, dass die Depression auch vor den ‚Erfolgreichen’ keinen Halt macht, im Gegenteil. Wer unter einer Depression leidet, ist kunst- und kulturgeschichtlich in ‚bester‘ Gesellschaft. Nicht ohne Grund stammt das berühmteste Bild zum Thema Melancholie von Albrecht Dürer, der selbst großen Wert darauf legte, dass sein Gemütsleiden als Depression oder, wie man damals sagte, Melancholie erkannt würde. Die Liste erfolgreicher Persönlichkeiten aus Kunst, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist lang: Ernest Hemingway und Klaus Mann sind ebenso dabei wie Ted Turner (Gründer des Nachrichtensenders CNN), Winston Churchill, Prinz Klaus der Niederlande und Keanu Reeves. Auch Michelangelo, Karl May, Frederic Chopin und Rudolf Diesel waren an Depression erkrankt.

3. Kommen Depressionen heute häufiger vor als früher?

Legt man die Diagnosenentwicklung, zum Beispiel aus Krankenkassenstatistiken, zu Grunde, dann könnte man tatsächlich diesen Eindruck gewinnen und viele haben sogleich die vermeintlich passende Erklärung parat: Weil unser modernes Leben eben so viel Stress mit sich bringt, werden vermehrt Depressionen ausgelöst. Mit derart komplexitätsreduzierenden Lösungsansätzen sollte man jedoch überaus vorsichtig sein. Die Epidemiologie ist stets nur so gut wie die Erhebungsmethodik. Früher, als Depressionen vermeintlich seltener waren, war die Bereitschaft, Symptome einer Depression bei einer epidemiologischen Befragung preiszugeben, wesentlich geringer als heute. Durch wirkungsvolle Aufklärungsarbeiten, ich nenne hier das Kompetenznetzwerk des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema Depression, aber auch die gute Arbeit zahlreicher Selbsthilfegruppen, ist das Thema Depression in der Öffentlichkeit weniger negativ besetzt als noch vor 10 oder 20 Jahren. Natürlich haben hierzu auch Menschen, die heute im öffentlichen Leben stehen, wie der Fußballspieler Sebastian Deisler, der Filmschauspieler Keanu Reeves oder die Sängerin Britney Spears, beigetragen.

Wenn, wie manche meinen, die Depression eher eine Art Zivilisationskrankheit oder Modekrankheit wäre, dann müssten sich zwangsläufig die Häufigkeiten der Depression in Industriestaaten von denen in den so genannten ‚Drittwelt‘- oder Schwellenländern unterscheiden. Es gibt aber starke kulturelle Unterschiede in der Art und Weise, wie Patienten ihre Depression wahrnehmen und über diese im Falle einer epidemiologischen Erhebung berichten. Man kann mit den Erhebungsfragebögen, die in und dezidiert für Westeuropa entwickelt worden sind (und die sich zudem von Erhebung zu Erhebung ändern), nicht genau feststellen, ob die statistische Zunahme an Depressionen auf die Erneuerungen der Fragebögen zurückzuführen ist, oder ob sich tatsächlich die Häufigkeit der Erkrankung verändert hat; schon gar nicht erwarten kann man, dass mit dem gleichen Fragebogen – jeweils in die betreffende Sprache übersetzt – in der Ukraine das Gleiche herauskommt wie in Kolumbien, in Südchina, Schweden oder Japan. Tatsächlich variieren die Häufigkeitszahlen zwischen 10 und 25 %, aber nicht systematisch, sondern kreuz und quer von Land zu Land. Werden Erhebungen gemacht, die auf die ethnischen und kulturellen Besonderheiten einer Region eingehen, kommt immer das Gleiche heraus, nämlich 10 – 15 %.

4. Erkranken Frauen häufiger an Depression?

Vergleicht man die Diagnosenhäufigkeit bei Frauen mit der von Männern, so fällt auf, dass Frauen etwa doppelt so häufig an Depression zu erkranken scheinen. Allerdings kann es sich hierbei um ein Artefakt handeln, denn je schwerer die Depression ist, desto mehr gleichen sich Frauen und Männer in ihren Häufigkeitszahlen an. Die manisch-depressive Erkrankung tritt bei Frauen und Männern gleich häufig auf. Es kann also sein, dass die größere Häufigkeit der Diagnose Depression bei der Frau vor allem durch die leichteren Ausprägungsformen erklärt werden können. Hier muss an die genderrelevante Möglichkeit gedacht werden, dass Männer bei der Preisgabe depressiver Symptome und dem Weg zum Arzt, um sich wegen einer Depression behandeln zu lassen, zurückhaltender sind.

Eine Besonderheit, die Frauen gegenüber depressiven Verstimmungen bis hin zur schweren wahnhaften Depression anfälliger macht, existiert aber doch: Dies ist das erhöhte Risiko, zum Zeitpunkt der monatlichen Regelblutung zu erkranken, sowie bei anderen hormonellen Umstellungen wie der Geburt und der stark verminderten Produktion von Sexualhormonen bei Frauen Ende des vierten Lebensjahrzehnts. Vor allem die starken Stimmungsschwankungen nach der Geburt, bei der eine massive Abnahme frauenspezifischer Hormone wie Östrogene und Progesteron stattfindet, sind charakteristische Symptome im Wochenbett. Selten kommt es dabei sogar zur schweren wahnhaften Depression.

5. Die Depression, eine potentiell tödliche Erkrankung?

Nach offiziellen Statistiken nehmen sich jedes Jahr in Deutschland etwa 10.000 Menschen das Leben durch Suizid. Da Suizidversuche und Suizid mit erheblichen sozialen, aber auch mit finanziellen Nachteilen für die Angehörigen verbunden sind, nimmt man zu Recht an, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist. An den nichtnatürlichen Todesursachen, die durch Verletzung und Vergiftung entstehen, sterben pro Jahr 35.000 Menschen, hiervon 23.000 Männer und 13.000 Frauen. Wir müssen annehmen, dass sich auch hierunter viele „versteckte“ Suizide befinden.

Etwa 16 % aller Menschen mit Depression und 30 % der Patienten mit bipolarer (manisch-depressiv) Depression begehen einen Suizidversuch. An Suizid sterben 6 % aller Patienten mit Depression, bei bipolarer Depression ist die Zahl etwa doppelt so hoch.

Wenn man diese Zahlen sieht, so muss man feststellen, dass die Depression tatsächlich eine potentiell tödliche Erkrankung ist. Die besondere Tragödie dabei ist, dass der Tod durch Suizid im Gegensatz zu anderen schweren Krankheiten, zum Beispiel Krebs, grundsätzlich verhinderbar ist. Daher ist es umso wichtiger, Patienten mit schweren Depressionen immer wieder zu erklären, dass die momentane Verzweiflung und Hilflosigkeit als typisches Zeichen ihrer Erkrankung vorübergeht und damit auch der Wunsch verschwinden wird, der Krankheit durch Suizid zu entfliehen.

Wir dürfen nicht übersehen, dass der Patient ja nicht das Leben an sich beenden will, sondern der Suizid aus einem Impuls heraus geschieht, weil die Depression nicht mehr auszuhalten ist.

Es gibt auch andere Ursachen als Depressionen, die zu Suizid führen können. So begeht ein erheblicher Anteil der Menschen, die an einer Alkoholabhängigkeit oder anderen Suchtkrankheiten leiden, einen Suizidversuch, der vor allem bei älteren Männern zum Tode führt. Ein gewisser Prozentsatz, man schätzt 5 – 8 %, begeht einen Suizid in Folge einer negativen Lebensbilanz, oft nach beruflicher Enttäuschung und wenig Rückhalt in der Familie. Es kommt auch zu Suizidversuchen nach dem Verlust eines Partners. Gerade solche Ursachen führen zu Suizidhandlungen, die für Außenstehende nur selten vorhersehbar sind.

6. Fördern Antidepressiva das Risiko für Suizide bei Kindern und Erwachsenen?

In den vergangenen Jahren ist diskutiert worden, ob Kinder, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde, unter einem bestimmten antidepressiv wirkenden Medikament ein erhöhtes Suizidrisiko hätten. Abgesehen davon, dass sich die Herstellerfirma hier nicht besonders geschickt bei der Offenlegung der Studienergebnisse verhalten hat, ist festzustellen, dass weder bei Kindern noch bei Erwachsenen durch Antidepressiva Suizide provoziert werden. Im Gegenteil: Die Gedanken, nicht mehr leben zu wollen, klingen unter diesen Medikamenten ab. Man muss lediglich die einzige Einschränkung machen, dass ein schwer depressiver Patient, der unter Suizidgedanken leidet, immer dann, wenn durch das Medikament der Antrieb gegenüber der Ausgangslage wieder erhöht ist, die Stimmung aber dennoch sehr von Verzweiflung geprägt wird, diese Antriebssteigerung unter Umständen die Umsetzung der Suizidgedanken in die Tat unterstützt. Retrospektive Untersuchungen haben ergeben, dass der Vermerk auf dem Beipackzettel, wonach zu Beginn der Einnahme von Antidepressiva eine erhöhte Suizidgefahr bestünde, die Verschreibung von Antidepressiva reduziert hat. Dies wiederum hatte zur Folge, dass sich die Anzahl der Todesfälle durch Suizid erhöht hat.

Insgesamt muss ganz klar festgehalten werden, dass das Hauptrisiko für den Suizidversuch, egal welcher Altersgruppe, die Depression selber ist und nicht das Medikament, das zur Behandlung der Depression gegeben wird.

7. Ursachen der Depression

Früher hat man zwischen neurotischer und endogener Depression unterschieden. Prämisse für diese Differenzierung war die Annahme, es gäbe für die endogenen Depressionen eine organische Ursache, wohingegen der neurotischen Depression eine nichtorganische, durch äußere Faktoren wie soziales Umfeld, Kindheitserfahrungen etc. hervorgerufene, Ursache zugrunde läge.

Die Erforschung des Gehirns mit Methoden der Naturwissenschaften, einschließlich der experimentellen Psychologie, haben hier eine neue Sichtweise geschaffen: Die Depression ist eine Erkrankung des Gehirns. In diesem Organ werden in Milliarden kleinen Nervenzellen, die alle in komplexen Schaltkreisen in Verbindung zueinander stehen, Lebenseinflüsse registriert und gespeichert sowie die entsprechenden Antwortmuster programmiert und an alle anderen Gewebe des Körpers weiterversendet. In welcher Art und Weise die äußeren Einflüsse, die wir über Sinnesorgane wie Augen und Nase, Geschmacksnerven und Körperberührungen aufnehmen, in unserem Gehirn abgespeichert werden, hängt von unserem früheren Gebrauch des Gehirns, also den abgespeicherten Informationen, ebenso ab wie von unserer genetischen Ausstattung. Fast die Hälfte aller unserer Gene sind nur dazu da, die Blaupause für das Funktionieren unseres Gehirns herzustellen. Somit kann es durchaus zu größeren oder kleineren Abweichungen kommen, die den Einzelnen entsprechend verletzbar für äußere Einflüsse machen.

Man nimmt an, dass die genetischen Anteile für die typische Depression bei 50 % liegen, während der genetische Anteil für die manisch depressive Erkrankung über 80 % ausmacht. Diese genetische ‚Verletzbarkeit’ ist nicht auf ein einzelnes Gen zurückzuführen, sondern auf eine Vielzahl unterschiedlicher Gene. Diese Gene bestimmen, ob wir gegenüber äußeren Ereignissen, die starke Stressreaktionen auslösen, verletzlich sind und als Folge eine Depression bekommen. Es kann aber auch umgekehrt sein, dass eine besondere genetische Veranlagung dazu führt, dass wir gegenüber Stresssituationen überdurchschnittlich belastbar, also resistent, sind. Die Frage also, ob wir an einer Depression als Folge einer Stresssituation erkranken, ist immer nur aus dem Wechselspiel zwischen äußeren Einflüssen und genetischer Veranlagung zu beantworten. Wir nennen das Gen-Umwelt-Interaktion, ein außerordentlich wichtiges, neues Forschungsgebiet.

8. Woher weiß ich, ob ich eine Veranlagung zur Depression habe?

Der sicherste Hinweis für eine Veranlagung ist das Vorhandensein von Depression bei leiblichen Angehörigen. Hiervon sollte man sich aber nicht über Gebühr beunruhigen lassen, denn die Depression wird nicht nach einem einfachen Erbvorgang weitergegeben. Vielmehr ist die Erblichkeit über viele Gene weit verstreut. Jedes dieser Gene ist nur geringfügig verändert und trägt in unterschiedlichem Ausmaß zur genetischen Disposition bei. Durch äußere Einflussfaktoren kann die Genaktivität akut und nur vorübergehend oder aber bleibend verändert werden, so dass es spontan oder erst allmählich zur Manifestation klinischer Symptome kommen kann. Wichtig ist es zu wissen, dass ein genetisches Risiko durch familiäre Belastung besteht und dann auch auf die Entstehung früher Krankheitsanzeichen, wie zum Beispiel Schlafstörungen, vegetative Veränderungen oder Angstanfälle zu achten und diesen früh gegenzusteuern.

9. Wie erfolgt die Behandlung der Depression?

Vergleicht man eine große Zahl von Patienten mit Depression, dann gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und äußeren, als Stresssituationen empfundene Belastungen, die eine Depression auslösen können. Im Einzelfall sieht das oft anders aus: Nicht immer ist eine solche für den Einzelnen als belastend empfundene Stresssituation als Auslöser einer depressiven Episode zu identifizieren, genauso wie die meisten Menschen, die eine belastende Situation erleben, deswegen noch keine Depression bekommen.

Aufgrund des eindeutigen Zusammenhangs zwischen belastenden Lebensereignissen, kurz Stressoren, und dem Entstehen von Depression hat die Stressforschung eine zentrale Rolle auch in der Behandlung der Depression eingenommen. Stresssituationen werden im Gehirn durch die Herstellung verschiedener Eiweißmoleküle, sogenannter Neuropeptide, beantwortet, diese erhöhen die Stresshormonkonzentration im Gehirn und im restlichen Körper. Diese Stresshormone greifen aber auch in die Regulierung der Botenstoffe des Gehirns ein. Dies sind kleine chemische Moleküle, die als Signalvermittler zwischen den Milliarden Nervenzellen des Gehirns tätig sind. Diese kleinen Signalmoleküle, auch Neurotransmitter genannt, sind der Ansatzpunkt der heute im Handel befindlichen Medikamente gegen Depression, der sogenannten Antidepressiva. Diese Medikamentenklasse setzt sich aus ganz unterschiedlichen chemischen Verbindungen zusammen. Gemeinsam ist den Antidepressiva aber, dass sie in den Stoffwechsel oder in die Funktion der signalübertragenden Neurotransmitter eingreifen.

Das muss man sich so vorstellen: Aus der Endigung einer Nervenzelle wird ein Botenstoff freigesetzt, um das Signal von der einen Nervenzelle zur anderen zu übertragen. Zwischen den Enden zweier Nervenzellen ist ein kleiner Spalt, in den der Botenstoff freigesetzt wird. Wenn er einmal freigesetzt ist, hat er zwei Möglichkeiten: Entweder wird er von der Nervenzelle, die ihn freigesetzt hat, wieder aufgenommen oder er bindet an eine Struktur an der Oberfläche der benachbarten Nervenzelle. Dort löst er ein Signal aus, das in das Zellinnere weitergeleitet wird. Ist also der Botenstoff einmal freigesetzt, hat er zwei Alternativen: Entweder er verschwindet dorthin, wo er schon war, nämlich zurück in die freisetzende Nervenzelle, oder aber er löst ein Signal in der benachbarten Nervenzelle aus. Diese Weiterleitung des Signals scheint sehr wichtig zu sein, denn Antidepressiva wirken alle durch Verstärkung dieser Form der Signalweiterleitung. Die Antidepressiva unterscheiden sich allerdings darin, welche Art von Botenstoffen hier in deren Wirkung verstärkt wird. Wir unterscheiden das Serotonin, das Noradrenalin und das Dopamin.

Die heute am meisten verwendeten Antidepressiva stärken die Signalwirkung von Serotonin. Unsere Kenntnisse über die Wirkung der Antidepressiva sind zwar schon sehr umfangreich, aber wir entdecken immer neue Effekte, die diese Medikamente an der Zelloberfläche oder im Zellinneren ausüben können.

Durch viele klinische Untersuchungen an Patienten mit Depression ist eindeutig nachgewiesen, dass Antidepressiva wirksam sind. Gelegentlich hört man auch Stimmen, wonach Antidepressiva die ihnen zugerechnete Wirkung gar nicht besitzen. Diese Äußerungen sind falsch, zynisch und gefährlich, weil sie dazu verleiten können, diese Therapie gerade bei den Patienten nicht anzuwenden, die sie dringend benötigen. Der Eindruck, Antidepressiva besäßen nicht die ihnen zugerechnete Wirkung, stammt vor allem aus Studien, bei denen Patienten mit leichter Depression untersucht wurden und wobei attestiert wurde, dass hier gegenüber Plazebo (also einem nichtwirksamen Scheinmedikament) kein Vorteil bestehen würde. Es ist aber so, dass leichte Depressionen sehr oft auch ohne spezifische Behandlung vergehen, so dass aus der Gleichwirksamkeit von Antidepressivum und Plazebo in solchen Studien nicht auf eine Unwirksamkeit von Antidepressiva bei schweren Depressionen geschlossen werden darf. Eine sehr aufwändige Metaanalyse, die über 500 kontrollierte Studien mit insgesamt mehr als 150.000 Patienten umfasste, hat ein eindeutiges Ergebnis geliefert:

Alle im Handel befindlichen Antidepressiva sind besser als Plazebo.

Die Häufigkeitszahlen, die ich genannt habe, also die etwa 10 – 15 % Risiko für jeden Einzelnen, im Leben an einer Depression zu erkranken, beinhalten nicht diese leichten Depressionen, die keiner medikamentösen Therapie bedürfen. Alle unsere Körpervorgänge, unser Denken, Fühlen, Handeln und Wollen, werden von bestimmten Schaltkreisen unseres Gehirns über chemische Prozesse beeinflusst. Die Signalüberträger sind die genannten Botenstoffe, deren biochemisches Gleichgewicht in der Depression gestört ist. Die Therapie zielt darauf ab, durch Medikamente diese Stoffwechselstörung in den Nervenzellen zu korrigieren.

Bei schwerer Depression gibt es keine Alternative zur Beeinflussung dieser Stoffwechselstörung durch Antidepressiva. Diese Medikamente sind keine Beruhigungsmittel, führen auch nicht zu Gewöhnung oder Abhängigkeit und haben keine gravierenden Nebenwirkungen.

Der Zeitraum zwischen der Einnahme eines Antidepressivums und dem Einsetzen der ersten Symptomverbesserung ist sehr unterschiedlich. Oft dauert es zwei oder mehr Wochen bis der Patient eine Verbesserung seiner Symptome spürt. Daher ist es wichtig, dass der Patient nicht die Geduld verliert und akzeptiert, dass der Heilungsverlauf langsam Schritt für Schritt verläuft und manchmal nach einem ersten Therapieerfolg noch einmal vorübergehend Verschlechterungen eintreten können.

10. Wie gelangen Antidepressiva in die Blutbahn?

Die Antidepressiva müssen einen komplizierten Weg zurücklegen, bevor sie im Gehirn ihre Wirkung entfalten können. Zunächst werden sie als Tabletten, selten auch als Tropfen, eingenommen und wandern durch die Speiseröhre in den Magen und von dort in den Darm. Dort werden sie vom Blut aufgenommen, gelangen in den großen Kreislauf und werden, nachdem es ihnen gelungen ist, ihren Aufenthalt in Magen und Darm heil zu überstehen und über die Leber nicht abgebaut zu werden, vom Blut an das Gehirn abgegeben. Die Art und Weise, wie Magen und Darm mit dem Medikament umgehen, variiert sehr stark. Auch in der Leber erleiden die Medikamente ein unterschiedliches Schicksal, denn Menschen unterscheiden sich hinsichtlich der Aktivität derjenigen Enzyme, deren Hauptaufgabe der Abbau von Medikamenten ist. Das heißt, bei dem einen Menschen wird ein Medikament aus dem Magen-Darmtrakt ins Blut übergehen und nur in geringem Maße von der Leber abgebaut, so dass in diesem Fall im Blut bereits eine ausreichende Konzentration des Antidepressivums vorliegt, obwohl die eingenommene Menge gering war. In einem anderen Fall allerdings kann die Passage aus dem Magen-Darmtrakt erschwert sein und in der Leber ein sehr intensiver Abbau des Medikaments erfolgen, so dass bei der gleichen Dosis wie zuvor nur eine geringe Menge im Blutkreislauf zirkuliert. Um die Risiken der zu hohen oder niedrigen Dosierung zu vermeiden, werden die Plasmakonzentrationen der Antidepressiva im Blut gemessen. Man nennt das therapeutisches Drug Monitoring (TDM).

11. Wie überwindet ein Antidepressivum die Blut-Hirn-Schranke?

Damit ein Antidepressivum überhaupt wirken kann, muss es aus der Blutbahn in das Hirngewebe eindringen. Dabei gilt es Folgendes zu bedenken: Unser Gehirn hat einen hohen Energiekonsum. Obwohl es nur 2 % des Gesamtkörpergewichts wiegt, verbraucht es 20 % der Energie, die wir mit unserer Nahrung zu uns nehmen. Das Gehirn kann keine Energiespeicher anlegen und muss daher ununterbrochen mit den Energieträgern durch das Blutkapillarsystem versorgt werden. Diese Versorgungsleitungen sind hoch komplex und besitzen eine Länge von ca. 600 km. Damit keine körperfremden Substanzen, die unser wertvollstes Organ belasten könnten, in das Gehirn eindringen, sind die Wände dieser Blutgefäße mit Molekülen ausgekleidet, die viele Substanzen, die nicht ins Gehirn sollen, erkennen können und sobald die Substanz das Blutgefäß verlassen will, um ins Gehirn einzudringen, dafür sorgen, dass dies nicht geschieht und die Substanz wieder in die Blutkapillare zurückgepumpt wird.

Diese Moleküle stellen die Blut-Hirn-Schranke dar und werden wegen ihrer Funktion auch „Wächtermoleküle“ genannt. Auch die meisten Antidepressiva werden von diesen Wächtern erkannt und zurückgewiesen. Der Bauplan dieser Wächtermoleküle ist in einem speziellen Gen, dem ABCB1 Gen niedergelegt. Varianten in dem ABCB1 Gen haben Einfluss darauf, ob das verordnete Medikament leicht oder erschwert an den Wirkort gelangt. Durch Analyse des ABCB1 Gens erfährt der Arzt, ob das von ihm verordnete Antidepressivum bei seinem Patienten in empfohlener Dosierung und Plasmakonzentration die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann oder nicht.

12. Haben Antidepressiva Nebenwirkungen?

Substanzen der ersten Generation Antidepressiva, die in ihrer chemischen Grundstruktur in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckt wurden, hatten tatsächlich bei vielen Menschen unangenehme Nebenwirkungen, die sich auf das vegetative Nervensystem auswirkten, und gelegentlich zu Schweißausbrüchen, trockenem Mund, verschwommenem Sehen und Krampfanfällen führten. Die neuen Antidepressiva, die wir heute einsetzen, haben diese Nebenwirkungen nicht mehr, jedoch andere, die zwar weniger unangenehm sind, mit denen wir aber auch noch nicht zufrieden sein können.

Hierzu zählen vor allem zu Beginn der Behandlung innere Unruhe, Schweißausbrüche, Gewichtszunahme, Schlafstörungen und gelegentlich sexuelle Funktionsstörungen wie Erektions- oder Orgasmusprobleme. All diese Symptome, die durch Antidepressiva hervorgerufen werden – und dies gilt es stets erneut zu betonen – sind geringfügig im Vergleich zu den Symptomen der Depression selbst, die ebenfalls mit Herz-Kreislaufbeschwerden, Magen-Darmbeschwerden, sexuellen Funktionsstörungen, Schlaflosigkeit und Unruhe einhergeht. Wichtig ist zu wissen, dass Antidepressiva nicht abhängig machen, man wird also nicht nach ihnen „süchtig“.

13. Woher weiß ich, ob ich das richtige Medikament bekomme

Es gibt heute eine große Anzahl verschiedener Antidepressiva auf dem Markt (ungefähr 40), ohne dass wir von vornherein mit Sicherheit sagen können, welches für den betreffenden Patienten das richtige ist. Unterschiedliche Medikamente haben unterschiedliche Haupt- und Nebenwirkungsprofile. Einige Medikamente wirken eher aktivierend. Diese sind vor allem bei Patienten angebracht, bei denen der psychische Antrieb darniederliegt. Andere Medikamente wirken eher beruhigend und sind vor allem dann geeignet, wenn der Patient von starker innerer Unruhe und Schlafstörungen geplagt ist.

Die Wissenschaft bemüht sich derzeit, aufgrund biochemischer und genetischer Daten das für den einzelnen Patienten am besten geeignete Medikament identifizieren zu können. Diese maßgeschneiderte Therapieform wird auch „personalisierte Medizin“ genannt. Die Möglichkeit, durch Messung von Biomarkern schneller das für den einzelnen Patienten richtige Medikament zu wählen, ist eine große Chance. Die Bestimmung der Plasmakonzentration des Medikaments und der Varianten im ABCB1 Gen sind ein erster Schritt in diese Richtung.

14. Werden bei der Depression nur Antidepressiva als Medikamente gegeben?

Tatsächlich stehen die Antidepressiva im Mittelpunkt jeder medikamentösen Depressionstherapie. Zu Beginn einer Behandlung kann es allerdings nötig sein, für ein oder zwei Wochen ein so genanntes Benzodiazepin zu geben. Hierdurch werden quälende Angstzustände, vor allem auch Suizidgedanken, abgemildert. Wir sind heute allerdings mit der Verordnung von Benzodiazepinen äußerst zurückhaltend. Sie werden nur in ausgesuchten Fällen verordnet, weil sie bei längerem Gebrauch zur Abhängigkeit führen können.

Eine andere Substanzklasse, die gelegentlich mit Antidepressiva kombiniert wird, sind die sogenannten Antipsychotika (früher Neuroleptika). Diese Medikamente haben vor allem ihre Berechtigung bei der Behandlung der Manie. Sie werden auch bei denjenigen depressiven Patienten gegeben, bei denen unrealistische negativ gefärbte Ideen (zum Beispiel wahnhafte Schuldgedanken etc.) bestehen. Wenn Schlafstörungen besonders quälend sind, wird man zunächst versuchen, diese mit einem hierfür besonders geeigneten Antidepressivum zu behandeln. Wenn dies nicht ausreicht, werden vorübergehend auch Antipsychotika verordnet.

15. Welche Rolle spielt die Psychotherapie?

Eine psychotherapeutische Begleitung eines schwer depressiven Patienten ist in der Mehrzahl der Fälle als Ergänzung der Pharmakotherapie dringend nötig. Ein verständnisvolles und stützendes ärztliches Gespräch mit Erstellung eines Gesamtbehandlungsplans ist die Grundlage jeder Depressionsbehandlung und kann bei leichten depressiven Verstimmungen als einzige Therapiemethode ausreichen.

Die für die akute Depression wichtigste Form der Psychotherapie ist die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie. Sie beinhaltet die Korrektur negativer Realitäts- und Selbstbewertung, den schrittweisen Aufbau von Aktivitäten nach dem Verstärkerprinzip, die Förderung von Selbstsicherheit und sozialer Kompetenz sowie die Bewältigung von Alltagsproblemen. Ziel jeder Depressionstherapie ist immer die vollständige Wiederherstellung des psychischen Befindens. Durch den zunehmenden wirtschaftlichen Druck der Kostenträger zur verkürzten stationären Aufenthaltsdauer kann dieses Ziel oft nicht erreicht werden. Daher ist eine Verzahnung der stationären mit der ambulanten Versorgung nötig, damit die nach der stationären Therapie verbliebenen Defizite durch die ambulante Behandlung beseitigt werden und somit das Rückfallrisiko verringert wird.

16. Kann die Depression geheilt werden?

Versteht man unter Heilung die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes unter Erreichen des Ausgangszustandes, dann können wir mit Sicherheit sagen, dass nach einer Behandlung von sechs bis acht Wochen etwa 50 % der Patienten zumindest um die Hälfte gebessert sind und hiervon etwa 25 % symptomfrei werden. Weitere 20 – 30 % der Patienten benötigen kompliziertere Therapien, bei denen mehrere Medikamente kombiniert werden müssen und auf alle Fälle auch eine intensive Psychotherapie angewandt werden muss. Bei etwa 10 – 15 % der Patienten ist die Heilung nicht vollständig, es bleiben Restsymptome, die von Antriebslosigkeit bis zu Schlafstörungen und anderen Beschwerden reichen. Diese Zahlen entsprechen etwa der einer Therapie des Bluthochdrucks, auch hier bleiben 5 – 10 % der Patienten therapieresistent.

Im Zusammenhang mit Depressionstherapie wird der Begriff Heilung immer wieder kontrovers diskutiert. Hier muss klargestellt werden, dass die Depression sehr wohl heilbar ist, dass aber jemand, der bereits eine depressive Episode erlitten hat, ein erhöhtes Risiko besitzt, später eine erneute depressive Episode zu erleben. Dieses erhöhte Erkrankungsrisiko hatte er aber bereits vor der ersten Episode (sonst hätte er diese nicht bekommen). Weil jede depressive Episode das Risiko einer erneuten Episode erhöht, ist es so wichtig, dass bereits die frühen Episoden wirkungsvoll behandelt werden und diese Behandlung nicht schon nach Abklingen der Hauptsymptome beendet wird, sondern möglichst sechs bis zwölf Monate weitergeführt wird, um eine hohe Stabilität zu erreichen. Gerade bei älteren Menschen sollte die Antidepressivatherapie als Prophylaxe lange weitergegeben werden. Wichtigstes Therapieziel ist die vollständige Symptomfreiheit, Remission, genannt. Wenn dies erreicht wurde, ist die Aussicht, von weiteren Depressionsepisoden verschont zu bleiben, sehr groß.

17. Was ist zu tun, damit es nicht zu einem Rückfall kommt?

Ist eine depressive Episode geheilt, besteht trotzdem das Risiko, wieder zu erkranken, und zwar mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als bei jemandem, der noch keine depressive Episode hatte. Daher ist es erforderlich, dass alle Möglichkeiten ausgenutzt werden, um das Wiederauftreten einer Depression zu verhindern.

Die Weiterbehandlung mit einem Antidepressivum über die depressive Episode hinaus –etwa ein Jahr lang – kann einem solchen Rückfall vorbeugen. Sind in der Vergangenheit schon häufiger depressive Episoden eingetreten oder war die erste depressive Episode durch eine besonders schwere Symptomatik gekennzeichnet, zum Beispiel Suizidgedanken oder wahnhafte Ideen, dann muss schon nach der ersten Krankheitsepisode eine vorbeugende Therapie in Erwägung gezogen werden. Neben der Weitergabe des zuletzt wirksamen Antidepressivums kann als Dauertherapie auch mit solchen Medikamenten vorgebeugt werden, die ursprünglich gegen die Behandlung von Krampfanfällen entwickelt worden sind. Dies sind vor allem das Carbamazepin und das Lamotrigen. Vor allem letzteres hat sich in den vergangenen Jahren als nahezu nebenwirkungsfreie Vorbeugung vor neuen Episoden bewährt. Im Falle der manisch depressiven Erkrankung wird auch heute noch die Gabe von Lithiumsalzen oder Valproinsäure empfohlen. Über längere Zeit gegeben, können diese Medikamente aber unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen, so dass zunächst andere Optionen erwogen werden sollten.

18. Was können die Angehörigen beitragen?

In den vergangenen Jahren hat sich bezüglich der Einstellung der Bevölkerung gegenüber Patienten mit Depression vieles gebessert. Trotzdem bestehen nach wie vor noch viele Vorurteile und Fehlkonzepte in der Bevölkerung und noch immer glauben viele, dass Depressionen Modeerkrankungen sind und Charakterfehler oder Willensschwäche reflektieren. Dem ist entgegenzuhalten, dass Depressionen in entlegenen Dörfern in Afrika oder Südamerika genauso häufig vorkommen wie in den Metropolen hochentwickelter Industrienationen.

In kaum einem anderen Bereich der Medizin tritt der Laie so kompetent als Experte auf, als wenn es darum geht zu erklären, wo eine Depression herkommt und was man dagegen tun muss, damit sie wieder verschwindet. Die Folgen sind das Aufblühen obskurer Therapieformen, die unwirksam sind, bis hin zur vor allem in Deutschland populären Einnahme von Kräuterextrakten anstatt wirksamer Medikamente (siehe Frage 21).

Bei all diesen Verflechtungen ist es wichtig, dass im unmittelbaren Umfeld des Patienten Verständnis für die Erkrankung aufgebaut wird, vor allem damit der Patient nach seiner Entlassung in eine Umgebung kommt, die ihn unterstützt und ihm nicht ratlos, vorwurfsvoll oder kritisch gegenübersteht. Es ist daher wichtig, frühzeitig die Angehörigen oder Vertrauenspersonen für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Diese müssen an die biologischen Grundlagen der Depression herangeführt werden und ihnen muss bewusst gemacht werden, dass es sich bei der Depression nicht um etwas handelt, das sich durch Willensstärke oder Beachtung von althergebrachten fachfernen Ratschlägen überwinden lässt. Auch Symptome wie Negativität und Reizbarkeit oder auch Inaktivität und vermeintliche Selbstbezogenheit des Patienten dürfen nicht dazu führen, dass die Angehörigen Verständnis und Geduld verlieren und sich von dem „undankbaren“ Patienten abwenden. Die Angehörigen und Freunde müssen lernen, Verständnis für die Unfähigkeit des Patienten entwickeln, aus eigener Kraft etwas zu erreichen und die emotionale Distanz oder auch ein vermindertes Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Sexualität nicht als emotionale Abwendung fehlinterpretieren. Symptomfrei werden Patienten nur noch in glücklichen Ausnahmefällen entlassen. Fortbestehende Restsymptome, gerade im kognitiven Bereich, können auch zugewandte Personen im direkten Umfeld des Patienten irritieren. Es ist auch wichtig, dass der Patient durch „gute Ratschläge“ nicht überfordert wird und umgekehrt Angehörige nicht in eine Art Co-Therapeutenstatus gedrängt werden, in dem sie ihrerseits überfordert sind.

Da der Druck nach Verkürzung der stationären Aufenthaltszeit immer größer wird, ist es wichtig, dass Patienten in ein Umfeld entlassen werden, das alle diese Dinge sorgfältig berücksichtigt: bei der sowohl Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, aber auch Neurologen, Internisten und Hausärzte gemeinsam mit den klinischen Psychologen ihre Bemühungen sorgfältig abstimmen, damit der Patient nicht einige Wochen oder Monate nach seiner Entlassung einen Rückfall erleidet und sogar wieder stationär aufgenommen werden muss.

19. Was ist das Burn-Out-Syndrom?

Das Burn-Out-Syndrom ist eine Diagnose, die Patienten oftmals an sich selber stellen, vor allem, wenn sie sich in einem Zustand der totalen Erschöpfung befinden. Die typischen Symptome sind verminderte Leistungsfähigkeit, emotionale und körperliche Erschöpfung, eine gleichgültig negative, manchmal auch zynische Haltung gegenüber der Arbeit und den Kollegen und die Überzeugung, beruflich versagt zu haben. Darüber hinaus kommen Symptome vor, die wir auch sonst bei der Depression kennen, wie Schlafstörungen, Freudlosigkeit, Konzentrationsstörungen und eine Vielzahl von körperlichen Beschwerden, wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Ähnliches.

Grundsätzlich ist hier zu sagen, dass Patienten, die sich selbst mit Burn-Out-Syndrom diagnostizieren, mitunter bereits die Kriterien einer behandlungspflichtigen Depression erfüllen. Oftmals löst eine lang andauernde Stresssituation bei denjenigen, die eine Disposition zu einer Depression haben, diese auch aus. Davon unterschieden werden muss allerdings die Erschöpfungssituation, die bei lang andauernder Belastung, fehlender Erholung, vor allem auch fehlendem Schlaf, hervorgerufen wird. In diesem Fall ist es sinnvoll, mit dem Patienten über seine Lebensführung, seine Leistungsgrenzen, seine Karriereerwartungen und sein soziales Netz zu sprechen. Wenn es gelingt, dem Patienten hier deutlich zu machen, dass eine über die eigenen Fähigkeiten und Leistungsreserven hinausgehende Kompression der Aufgabenbewältigung vermieden werden muss, dann ist der erste Schritt in die richtige Richtung schon getan. Wenn dies auf Anhieb nicht möglich ist, erscheinen auch Entspannungsverfahren und ein kognitives Verhaltenstraining angebracht.

20. Hat die Depression selbst Auswirkungen auf die Gesundheit?

Patienten mit Depression haben ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen und Stoffwechselerkrankungen, vor allem für Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit).

Eine vom University College London veröffentlichte Arbeit zeigt, dass schwere depressive Symptome akute Minderdurchblutung des Herzens auslösen können. Die schwere Depression ist ein Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen, sowohl für ihr Entstehen als auch für ihr Wiederauftreten: Zum Beispiel ist das Risiko, nach einem Herzinfarkt innerhalb eines halben Jahres erneut einen Herzinfarkt zu erleiden, bei Patienten, die eine Depression haben, drei bis viermal höher als bei denen, die nach dem Herzinfarkt depressionsfrei sind. Die Depression wird als ein den erhöhten Blutfetten gleichwertiger Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen angesehen.

Zahlreiche Untersuchungen, die vor allem moderne bildgebende Verfahren einsetzten, haben den ungünstigen Einfluss von Depression auf die Knochendichte nachgewiesen. Die verminderte Knochendichte zeigt den Knochenschwund, Osteoporose, an. Davon sind vor allem ältere Frauen betroffen. Die Ursachen hierfür sind neben dem bei Depression üblichen Bewegungsmangel wegen Antriebsarmut auch die oft lang anhaltende Erhöhung des Stresshormons Cortisol.

Depression und Demenz treten oft gemeinsam auf. Vor allem bei älteren Menschen kann dies tragische Folgen haben: Weil es gegen die Demenz noch keine wirksamen Medikamente gibt und die Differentialdiagnose Depression nicht bedacht wird, erhalten depressive Patienten im höheren Alter oftmals nicht Antidepressiva, die ihnen helfen würden.

Heute kann als gesichert angesehen werden: Ein Patient mit schlecht oder gar nicht behandelter Depression hat ein doppelt so hohes Risiko, im Alter eine Demenz zu erleiden wie ein Mensch, der keine Depression hat.

Ein besonders gravierendes Problem ist, dass Patienten mit einer Depression häufig Diabetes mellitus Typ 2 (auch Altersdiabetes genannt) bekommen. Die Ursache hierfür ist das sogenannte metabolische Syndrom. Es besteht unter anderem aus einer Störung des Zuckerstoffwechsels, Bluthochdruck, einer Veränderung des Fettstoffwechsels und einer Ansammlung von Fettgewebe im Inneren des Bauchraums. Das metabolische Syndrom ist ein wesentlicher Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes. Diese beiden Erkrankungen sind die häufigsten Erkrankungen alter Menschen. Betrachtet man die Altersentwicklung in unserer Gesellschaft, dann erkennt man allein schon daraus, wie wichtig es ist, die Risiken für diese beiden Volkskrankheiten zu reduzieren. Hierzu gehört auch das frühzeitige Erkennen und Behandeln von Depressionen, die, wenn sie nicht behandelt werden, im Alter die Tendenz haben, chronisch zu werden.

21. Was bringen mir Lavendelöl, Johanniskraut, Bachblüten, Gingko und andere pflanzliche Produkte?

Wir müssen zunächst verstehen, dass diejenigen Substanzen, die aus Pflanzen gewonnen werden, ebenfalls chemische Verbindungen sind, die im Körper erwünschte und unerwünschte Wirkungen hervorrufen. Tatsächlich sind chemische Verbindungen aus Naturprodukten, nicht etwas grundsätzlich anderes als diejenigen chemischen Verbindungen, die wir als Tabletten zu uns nehmen und die in chemischen Laboratorien entwickelt wurden. Die Arzneimittelkunde hat sich schließlich aus den in Naturprodukten vorkommenden chemischen Stoffen entwickelt. Das Bestreben der pharmazeutischen Industrie ist es, in ihren Laboratorien chemische Moleküle so abzuändern, dass der erwünschte Effekt optimiert und die unerwünschten Nebenwirkungen minimiert werden.

Am Beispiel des Johanniskrauts, das in Deutschland außerordentlich populär ist, kann dies illustriert werden:

Aus den Blütenblättern dieser Pflanze werden verschiedene Chemikalien gewonnen, die Wichtigsten sind Hypericin und Hyperforin. Diese chemischen Substanzen verstärken, genau wie handelsübliche Antidepressiva, die Wirkung der Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin im Gehirn, indem sie, ähnlich wie etwa Cipralex oder Trevilor, die Wiederaufnahme dieser Neurotransmitter in die Nervenendigungen hemmt. Darüber hinaus haben die in Johanniskrautextrakten enthaltenen Chemikalien Wirkung auf andere Neurotransmitter, zum Beispiel die Gamma-Aminobuttersäure, Dopamin und Glutamat.

Auch wenn das letzte Wort über die Wirksamkeit von Johanniskraut noch nicht gesprochen ist (die neueren wissenschaftlichen Publikationen, die positive Ergebnisse berichten, stammen häufig vom Hersteller selbst oder seinen Auftragnehmern), kann man nach dem heutigen Stand des Wissens sagen, dass bei leichteren Depressionen gegen einen Therapieversuch nichts einzuwenden ist.

Allerdings müssen einige Nebenwirkungen beachtet werden, die gravierend sein können: So kann es unter Johanniskraut zu Durchfällen und einer erhöhten Neigung zu starkem Sonnenbrand kommen. Problematisch ist die Anwendung von Johanniskraut, wenn auch andere Medikamente eingenommen werden, da Johanniskraut in der Leber einige Stoffwechselprozesse aktiviert, die zu unerwünscht raschem Abbau von Arzneimitteln führt. So wirkt oft die Antibabypille nicht mehr und einige Medikamente, die gegen AIDS oder Infektionen (Antibiotika) verordnet werden, sind bei gleichzeitiger Johanniskrauteinnahme in ihrer Wirkung eingeschränkt.

Auch Medikamente, die bei Herz-Kreislauferkrankungen (z.B. Digitalis, Gerinnungshemmer und Blutdrucksenker) oder Krampfleiden (Epilepsie) gegeben werden, können bei gleichzeitiger Johanniskrauteinnahme an Wirkung verlieren. Werden Standardantidepressiva gegeben, wird nicht nur deren Wirkung verstärkt, sondern auch Anzahl und Ausmaß der Nebenwirkungen. Daher sollte auf eine gleichzeitige Johanniskrauteinnahme unter Standardantidepressivatherapie verzichtet werden. Auch für den therapeutischen Nutzen von Lavendelöl und Bachblütenextrakten gibt es positive Berichte. In der Gesamtschau ist aber festzuhalten: Sogenannte Phytotherapeutika, also aus Pflanzen gewonnene Extrakte, sollten nur bei leichten Erkrankungsformen, bei denen ängstlich-depressive Symptomatiken und Schlafstörungen im Vordergrund stehen, angewandt werden.

Diese Medikamente sollen bei mittelschwerer und schwerer Depression nicht gegeben werden. Es muss bedacht werden, dass eine unzureichende Therapie das Risiko der Chronifizierung der Depression vergrößert. Daher sollten mittelschwere und schwere Depressionen unter fachärztlicher Anleitung konsequent mit den gut etablierten Antidepressiva behandelt werden.

22. Was ist von psychodelischen Substanzen zu erwarten?

Der Schweizer Chemiker Albert Hofmann war der Entdecker der psychodelischen Substanzen, Lysergsäurediäthylamid, LSD, und von Psilocybin, der psychoaktiven Substanz in den „magic mushrooms“. Letztere sind eine Gruppe von Pilzen, die wegen ihres Psilocybin-Gehalts „Zauberpilze“ genannt werden. Etwa zur gleichen Zeit wie die Entdeckung der ersten Antidepressiva, also in den 1950er Jahren, wurden in der Schweiz und anderen Ländern psychodelische Substanzen zur Behandlung der Depression eingesetzt, allerdings nicht unter denjenigen kontrollierten Studienbedingungen, die heute Standard sind. Bis heute gibt es nur wenige kontrollierte Studien, die den Effekt von Psilocybin bei schweren Depressionen zeigen konnten. In diesen Studien wurden aber Patienten behandelt, die wegen ihrer Krebserkrankung depressiv waren. Inwieweit sich diese Befunde auf Patienten mit einer primären schweren Depression übertragen lassen, ist offen.

In jedem Fall ist das therapeutische Potential dieser pharmakologisch interessanten Substanz nicht geklärt. Das trifft aber auch für die Nebenwirkungen und Langzeiteffekte zu: Es gibt Berichte über durch Psilocybin eingeleitete Horrortrips, Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen. Besonders auffällig sind neue Untersuchungen an gesunden Probanden, wonach lang andauernde Persönlichkeitsstörungen durch Psilocybin ausgelöst wurden. Auch wenn die Probanden diese Veränderungen nach eigener Einschätzung als eher positiv beschreiben, muss an dieser Stelle dennoch auf die damit einhergehende Problematik und die Gefahr einer unkontrollierten Einnahme mit bis dato nicht einschätzbaren Folgen hingewiesen werden.

Eine andere Situation ergibt sich aus einer klinischen Beobachtung bei Patienten, die trotz Anwendung mehrerer Antidepressiva bei ausreichender Dosierung und Plasmakonzentration sowie Testung der Blut-Hirn-Schranke, ob das Medikament auch im Gehirn ankommt, dennoch nicht gesund wurden. Diese Art behandlungsresistente Patienten (treatment resistant depression TRD) sprechen auf eine intravenöse Injektion von Ketamin in bis zu 70 % der Fälle gut an. Ketamin ist seit über 40 Jahren als Narkosemittel auf dem Markt und hatte auch vorübergehend eine Karriere als Partydroge.

Heute werden in spezialisierten Zentren bei behandlungsresistenter Depression intravenöse Ketaminbehandlungen angeboten. Seit kurzem ist auch eine intranasale (Nasenspray) Anwendungsform auf dem Markt. Beides, die intravenöse wie die intranasale Anwendung, müssen in der Arztpraxis durchgeführt werden, weil beide kurzfristig bei 20 – 30 % der Patienten zu Halluzinationen und anderen psychose-ähnlichen Wirkungen führen können. Nach Anwendung des Ketamin-Nasensprays müssen die Patienten noch mindestens zwei Stunden in der Arztpraxis verweilen.

Derzeit gibt es Bemühungen der Pharmaindustrie, ketaminähnliche Medikamente neu zu entwickeln und die Anwendung von Ketamin durch eine Aufbereitung, die es erlaubt, das Medikament wie üblich als Tablette einzunehmen, zu vereinfachen.

23. Versucht die Industrie neue Indikationen für ihre Produkte zu erfinden?

Natürlich ist die Pharmaindustrie daran interessiert, ihre Medikamente gut zu vermarkten. Wenn man aber bedenkt, dass von den derzeit in Deutschland an Depression erkrankten vier Millionen Menschen nur etwa 20 – 30 % eine angemessene Therapie erhalten, dann sollten all diejenigen Bemühungen der Ärzte und Selbsthilfegruppen unterstützt werden, die darauf abzielen, sicherzustellen, dass diejenigen, die behandelt werden müssten, auch erkannt werden. Hier wäre wahrscheinlich die größte Marktchance. Auf jeden Fall ist es ein Irrtum zu glauben, der Antidepressivamarkt sei im Bereich der Patienten mit Depressionen bereits gesättigt. Genau das Gegenteil ist der Fall.

Die Bezeichnung Antidepressiva legt nahe, diese Medikamente wirkten nur bei Depressionen. Tatsächlich ist ihre Effizienz aber bei einigen Angststörungen gleich gut oder sogar besser. Sedierende Antidepressiva haben auch einen großen Markt als schlaffördernde Medikamente. Dies ist ein großer Gewinn, denn einem Patienten der Ein- und/oder Durchschlafstörungen hat, ist mit einem schlaffördernden Medikament aus der Gruppe der Antidepressiva weitaus besser geholfen als mit einem der alten Schlafmittel der Gruppe der Barbiturate oder speziellen Benzodiazepinen. Diese Medikamente verlängern zwar die Schlafdauer, verändern die Physiologie des Schlafs aber so gravierend, dass der Erholungseffekt trotzdem ausbleibt. Gleichzeitig entsteht aber erst Gewöhnung und dann Abhängigkeit. Dieses Risiko fehlt auch bei lang andauernder Antidepressiva-Therapie bei Schlafstörungen.

Es gibt Stimmen, die den Epidemiologen vorwerfen, dass sie im Interesse der Industrie die Schwelle zur Identifizierung einer Erkrankung oft zu niedrig ansetzen und dadurch künstlich zu hohe Häufigkeitszahlen produzieren. Von diesem Vorwurf mag ich sowohl die Pharmafirmen als auch die Epidemiologen nicht völlig freisprechen und auch nicht davon, dass gelegentlich Krankheiten propagiert werden, die aus meiner Sicht nicht unbedingt als solche bezeichnet werden müssen. Das „Krankreden“ von Menschen, die aufgrund besonderer Lebensumstände gerade einmal das eine oder andere Symptom haben, halte ich für eine negative Entwicklung, weil damit vom eigentlichen großen Problem, nämlich dem unzureichenden Erkennen und Behandeln schwerer Depressionen, abgelenkt wird. Hier erwarte ich mir von der Pharmaindustrie, aber auch den Journalisten und Patientenselbsthilfegruppen, gemeinsam mit den Ärzten und klinischen Psychologen Anstrengungen, sich wieder auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren.

24. Was ist von der personalisierten Depressionstherapie zu erwarten?

Unter personalisierter Medizin versteht man ein Behandlungskonzept, das mit Hilfe von Labortests dem Patienten schneller zu der für ihn am besten geeigneten Therapie verhelfen soll. Diese Tests können Biomarker aus Blutproben oder Befunde in bildgebenden Verfahren sein.

Eine auf die Besonderheiten des individuellen Patienten angepasste Behandlung gibt es seit jeher. Das gilt auch für die Behandlung von Depressionen und Angststörungen: Ein ängstlich, agitierter Patient mit Schlafstörungen erhält vorzugsweise ein sedierendes Medikament. Prägen dagegen Abgeschlagenheit und Antriebsarmut das Krankheitsbild, wird man eher ein antriebssteigerndes Medikament empfehlen. Diese und ähnliche Anpassungen an die individuellen Symptome, das Alter, das Geschlecht und andere Begleiterkrankungen zielen aber auf die Nebenwirkungen der Medikamente und sind nicht auf die Depression oder die Angststörung gerichtete Mechanismen. Die personalisierte Therapie ist ein Paradigmenwechsel, denn sie gründet sich auf die Erkenntnis, dass bei Patienten, die alle Kriterien einer speziellen psychiatrischen Diagnose erfüllen, trotzdem nicht der gleiche krankheitsverursachende Mechanismus zugrunde liegen muss.

Daher will die personalisierte Therapie die im Gespräch zwischen Patient und Arzt erfahrenen Erkenntnisse durch Labortests erweitern. Erst durch die Ergänzung der traditionellen Diagnostik mit Hilfe sogenannter Biomarker, die individuelle Merkmale des Patienten auf physiologischer, molekularer und genetischer Ebene beschreibt, kann die Gesamtheit aller Patienten, die z.B. die Kriterien einer schweren Depression (engl.: Major Depression) erfüllen, in Untergruppen unterteilt werden, die auch hinsichtlich der Krankheitsmechanismen weitgehend einheitlich sind. Man nennt dies „Stratifizierung von Patientengruppen“ und ersetzt den Begriff „personalisierte Medizin“ mitunter durch „stratifizierte Medizin“. Auch die oft verwandte Bezeichnung „Präzisionsmedizin“ zielt in die gleiche Richtung, denn je mehr ich von dem Patienten weiß, desto präziser kann ich seine Therapie nach Maß gestalten. Die heute verfügbaren Antidepressiva haben ein sehr breites Wirkungsspektrum. Dies ist auch logisch, denn so lange ich den Krankheitsmechanismus nicht kenne, ist es besser, ein Medikament zu geben, das möglichst in alle in Frage kommenden Mechanismen eingreift. Je spezifischer ein Medikament wirkt, desto mehr muss ich von einem Patienten wissen. Der individuelle Patient rückt bei dieser Sichtweise in den Mittelpunkt, so wie es Hippokrates forderte: „Es ist wichtiger zu wissen, welche Person eine Krankheit hat, als zu wissen, welche Krankheit eine Person hat.“

In der Antidepressiva-Therapie werden momentan solche völlig neuartigen Wege beschritten. Hierzu ein Beispiel: Es gibt gut belegte Befunde aus der Grundlagenforschung, wie auch aus der klinischen Forschung, wonach bei vielen Patienten das im Gehirn produzierte Stresshormon Vasopressin bei denjenigen, die eine Veranlagung zur Depression haben, die Krankheit auslösen kann. Ein Medikament, das die Wirkung von Vasopressin unterdrückt, wäre in all diesen Fällen besonders dazu geeignet, rasch und nachhaltig zu heilen. Die Anwendung eines solchen Medikaments ist aber nur dann sinnvoll, wenn man durch Biomarker herausfindet, bei welchen Patienten ein „Vasopressin-Problem“ als Krankheitsursache vorliegt. Erst durch präzise Diagnostik auf molekularer und genetischer Ebene lassen sich aus der Gesamtheit der Patienten mit Depression diejenigen identifizieren, die auf einen „Vasopressin-Blocker“ gut ansprechen werden.

Dies ist ein Blick in die Zukunft. Ein erster Ansatz in Richtung personalisierter Depressionstherapie ist aber schon gemacht: Damit ein Antidepressivum wirken kann, muss es in ausreichender Menge am Wirkort vorhanden sein. Durch Messung der Plasmakonzentration des Wirkstoffs haben wir einen Hinweis, ob nach Einnahme des Medikaments genug Wirkstoff im Blut ist. Ob auch ausreichend viel Antidepressivum im Gehirn ankommt, kann man mit dem Blut-Hirn-Schranken Test, kurz ABCB1 Test (aerzte.abcb1-test.de), abschätzen. Natürlich sind diese Labortests keine Garantie für die Wirksamkeit, denn wenn das Medikament den Krankheitsmechanismus nicht heilt, nützt es auch nicht, wenn es an den Zielort kommt. Wenn es aber nicht dort hinkommt, kann es ganz bestimmt nicht wirken. Es sind immer die kleinen Schritte, die in ihrer Gesamtheit über Erfolg und Misserfolg entscheiden.

Florian Holsboer